Dipl.-Ing. Herbert Trauernicht, Gebäudemesstechnik
 

Kennen Sie das Märchen von den atmenden Wänden?


Immer wieder begegnet einem die Meinung, die Wände eines Hauses müssten atmen, damit sich die Luft im Haus erneuern kann.
Diese Theorie geht zurück auf Max von Pettenkofer, der sie im vorletzten Jahrhundert aufgestellt hat. (Pettenkofer, M.v.: Populäre Vorträge "über das Verhalten der Luft zum Wohnhaus des Menschen". Braunschweig 1877).

Diese Meinung ist längst überholt, sie hat sich aber offenbar in den Köpfen festgesetzt. Bitte beachten Sie auch den Artikel in "Energie-Depesche": Können Wände wirklich atmen?

Keine "atmende Wand"

Ritzen und Leckagen in der Bauhülle sind absolut ungeeignet als Ersatz für ein modernes, energiesparendes Lüftungssystem. Auch die Diffusionseigenschaft von Baustoffen in der Bauhülle kann diese Aufgabe nicht übernehmen. Es gibt keine Bauweise, die für sich reklamieren kann, dass bei ihr eine Lüftung nicht erforderlich ist. Es sei denn, die Ausführung ist im Gesamten undicht. Zufuhr von Sauerstoff, Feuchtigkeitsausbringung über die verbrauchte Luft und Reduktion von CO2 und Schadstoffen in der Wohnluft ist ausschließlich die Aufgabe der Lüftung. Der Begriff "atmende Wand, atmendes Haus" gilt in Fachkreisen als unseriös, selbst bei den meisten Baubiologen.
Quelle:
http://www.avis-net.de/spezial/daseigene/internet_haus/passiv/passiv_06.html (Link geht nicht mehr!)

Ein 25 Jahre alter Artikel eines bekannten Bauphysikers (Künzel-H: »Die "atmend" Außenwand« Gesundheits-Ingenieur 99,1/2 (1978) 20+29-32. ISSN 0720-9312) beschäftigt sich eingehend mit den "Tricks" des Max von Pettenkofer und klärt über die Herkunft des Begriffs "atmende Wand" auf.

Schließlich möchte ich noch auf die DIN 4108 von 1969 hinweisen, die sich wie ein Lehrbuch liest:

"Ein Atmen der Wände im Sinne einer Lufterneuerung der Innenräume findet nicht statt. Dagegen ist aus hygienischen und bautechnischen Gründen auf der Innenseite der Wände eine gewisse Aufnahmefähigkeit für Wasserdampf erwünscht; üblicher Innenputz, auch saugfähige Pappen und dgl. erfüllen diesen Wunsch (Pufferschichten). Um das Eindringen der von dieser Schicht bei hohem Feuchtigkeitsgrad der Raumluft aufgenommenen Wasserdampfmenge ins Innere der Bauteile zu verhindern, kann die Anordnung einer unmittelbar anschließenden möglichst wasserdampf-undurchlässigen Schicht (Dampfsperre) zweckmäßig sein, besonders bei mehrschichtigen Wänden. Die von den Pufferschichten aufgenommenen Feuchtigkeitsmengen sollen in Zeiten mit geringem Feuchtigkeitsgrad wieder an die Raumluft abgegeben werden. Dies wird durch Lüften der Räume (öffnen der Fenster, Einbau von Lüftungsschächten u.dgl.) gefördert." DIN4108-1969

Zu dem Thema erreichte mich von Herrn Eicke-Hennig folgender Hinweis:
Noch ein Baustein zu Ihrer Chronologie. Ganz wesentlich zur Versachlichung des Themas "Luftdurchgang" durch Bauteile hat 1928 Dr. Raisch beigetragen. Er hat die erste Messung mit verifizierbaren Randbedingungen vorgelegt. Den Aufsatz zu seiner Dissertation anbei. Danach war klar: Durch eine geweißte Wand geht weniger Luft, wie durch ein Schlüsselloch. Und: Der Innenputzt macht Wände dicht. Und: Ein Ziegelstein ist dichter, als das Mauerwerk mit seinen Haarrissen in den Fugen usw.  Bis dahin wurde viel behauptet, z.B. dass Pferdeställe keine Fenster bräuchten, weil durch ein m² Mauerwerk etwa 60 m³ Luft pro Stunde hindurchgingen usw. Seine Ergebnisse wurden von den wichtigen Hygienikern der zwanziger Jahre akzeptiert (Flügge, Korff-Petersen), beim Volke wurde die Wahrheit trotzdem nicht populär. Und das ist bis heute so geblieben. In Deutschland müssen die Wände atmen und nur die Wände. Eine unerträgliche Diskrimierung für die Kelledecken, Dächer und Fenster. Grad letztere stehen bei den Architekten heute doch wieder hoch im Kurs (Ganzglasarchitektur). Schaffen wir also atmungsfähige Gläser, das ist das Gebot der Stunde.
Gruß
Eicke-Hennig